Wendelin Bauer wurde am 11.3.1927 als Sohn eines Eisenbahners in Külz (Hunsrück) geboren.
Im Juni 1944 wurde der Siebzehnjährige in ein „Wehrertüchtigungslager“ nach Weimar einberufen. Er hatte viel Heimweh, Wendelin war bis dahin nie länger von zuhause weg gewesen. „Er sah damals zum ersten Mal den Rhein“, erzählte ein Schulfreund. Zwei andere gleichaltrige Schulkameraden aus Külz und Simmern waren bereits bei einem Bombenangriff auf das Wehrertüchtigungslager ums Leben gekommen.
Nach vier Monaten Ausbildung mußte er im Oktober 1944 in die Flakeinheit (Luftabwehr) eines Infanteriebattaillons nach Nordhessen einrücken. Die Alliierten rückten immer weiter vor, auch vom militärischen Standpunkt her wurde der Krieg immer aussichtsloser. Im März 1945 schickte der Befehlshaber des Infanteriebataillons seine Leute nach Hause (ein Befehl, für den dieser Offizier niemals einen Orden erhalten wird … ). Die Jungen zogen Zivilkleidung an, um nicht als Deserteure aufgegriffen zu werden – auf Fahnenflucht stand die Todesstrafe – und versuchten, zu Fuß ihre Heimatorte zu erreichen.
Wendelin hatte sich bis Aßmannshausen durchgeschlagen, Külz war noch einen Tagesmarsch, 25km, entfernt. Doch noch war der Rhein zu überqueren, dessen Ufer die Nazis streng kontrollierten. Auf der anderen Rheinseite waren schon amerikanische Fahrzeuge zu sehen, schon am 15.März waren die Amerikaner in Simmern bei Külz einmarschiert.
Wendelin hatte seit Tagen nichts mehr gegessen, und er war müde. Im Morgengrauen des nächsten Tages, so hatte er mit einem Bootsbesitzer vereinbart, solle er ihn über den Rhein setzen. Wendelin meldete sich bei der in Aßmannshausen lebenden Tante eines Schulkameraden, um dort die Nacht zu verbringen. Die Frau nahm ihn auf.
Doch Kurt B., der ehemalige Schulfreund Wendelins, war fanatischer Nazi: Wendelin wurde am nächsten Morgen vom Boot herunter verhaftet. Sein ehemaliger Schulkamerad hatte ihn bei der Aßmannshausener SS-Einheit verraten. „Kettenhunde“, SS in Zivil, hatten zugegriffen. Wendelin wurde in Aßmannshausen eingesperrt.
Zusammen mit anderen „Volksverrätern“ (so nannten die Nazis Deserteure) wurde er auf einen LKW verladen. Der Transport ging nach Bad Soden im Taunus. Unterwegs gelang es einigen der Gefangenen, zu fliehen. Die restlichen Gefangenen – unter ihnen Wendelin – wurden in der Kommandantur, damals im Hotel Adler untergebracht, einige Tage eingesperrt. Sie erhielten weder etwas zu essen noch zu trinken. Am 26. März schließlich wurden die Gefangenen zum heutigen Kreisaltersheim am Eichwald geführt, das damals als Lazarett diente.
Hier tagte das Standgericht. Während der Verhandlung gab ein Militär Wendelin Gelegenheit zur Flucht: Er solle sich durch das Toilettenfenster absetzen, doch ein SS-Mann bemerkte dies und drohte: „Wenn du das machst, wirst du auf der Straße wie ein Hund erschossen.“ Wendelin fand den Mut zur Flucht nicht. Er wurde wegen Fahnenflucht zum Tod durch Erschießen verurteilt. Ein zweiter Junge erlitt das selbe Urteil.
Die Exekution sollte im Eichwald stattfinden. Die Verurteilten wurden vor das Altersheim gebracht, begleitet von einem katholischen Militärpfarrer.
Hier soll es Auseinandersetzungen zwischen Passanten, Militärs und SS gegeben haben, in dem Sinne, daß die Passanten äußerten, es sei eine Schande, so einen jungen Kerl zu erschießen. Die anwesenden Soldaten, Luftwaffenangehörige aus Eschborn, sollen sich daraufhin geweigert haben, die Exekution durchzuführen. Die SS drohte den Passanten dagegen, wenn sie nicht verschwänden, würden sie denselben Weg gehen wie die zum Tode Verurteilten. (Der Wahrheitsgehalt dieser Passage ist nicht gesichert)
Zwei Frankfurter SS-Männer fanden sich schließlich bereit, die zwei Jungen zu erschießen. Unter Tränen hatte Wendelin, auf einem Stein sitzend, einen Abschiedsbrief an seine Eltern geschrieben: „Macht euch keine Gedanken um mich, ich habe gut gebeichtet.“ Die Verurteilten wurden von den zwei SS-Männern abgeführt. Kurze Zeit später waren aus dem Eichwald mehrere Schüsse zu hören. Die Leiche Wendelins verscharrten seine Mörder noch notdürftig, die Leiche des anderen Jungen ließen sie liegen. Die SS-Schergen zogen ihre Uniformen aus und setzten sich nach Frankfurt ab, wo zur selben Zeit die Alliierten einmarschierten .
In Külz hatte es schon bald nach Wendelins Erschießung Gerüchte gegeben. Anfangs wollte die Familie sie nicht wahrhaben. Doch als Wendelin sich nicht meldete, fuhr Josef Bauer, Wendelins Vater mit dem Fahrrad nach Bad Soden. In Bad Soden wollte anfangs niemand von der Erschießung gehört haben. Nach weiterem Nachfragen wurde Josef Bauer erklärt, „es ist nicht mehr dazu gekommen, der Junge ist geflüchtet.“ Doch Josef Bauer suchte weiter, untersuchte jeden Erdwall im Eichwald. Ein Mann kam ihm schließlich dort entgegen und fragte ihn, was er suche. Ja, er wisse von der Erschiessung. Frau E., die Schwester eines Freundes von Wendelin, die damals zufällig im Lazarett am Eichwald arbeitete und auch die Schüsse gehört hatte, wurde hinzugezogen. Sie führte die Männer zum Rehgraben, ein nahe dem Lazarett gelegenes Fichtenwaldstück. Unter einem frisch aufgeworfenen Erdhügel fand Josef Bauer die Leiche seines Sohnes, acht Einschüsse von Dumdum-Geschossen (Patronen mit gehacktem Blei, völkerrechtlich geächtet) wies sein Körper auf.
In einem Zinksarg wurde die Leiche Wendelins mit Hilfe der französischen und amerikanischen Alliierten nach Külz überführt und auf einem nahe gelegenen Friedhof unter großer Anteilnahme vieler Külzer beerdigt.
Aber auch andere Stimmen gab es: Frauen von Erznazis äußerten, ihre Männer hätten ja auch nicht einfach von der Truppe desertieren können, und überhaupt kämen die Nazis nochmal zurück.
Die zwei SS-Leute, die die zwei Jungen ermordeten, wurden in Simmern kurzzeitig eingesperrt auf Initiative des dortigen französischen Standortkommandeurs. Jemand in der Kommandantur gab Frau Bauer, Wendelins Mutter, eine Pistole, doch sie ließ die Mörder ihres Sohnes leben. Auch der Vater war der Ansicht, Wendelin solle in Frieden ruhen, sie wollten nicht mit denselben Mitteln wie seine Mörder Vergeltung üben.
In Bad Soden wurde die Leiche des zweiten erschossenen Jungen, die nicht vergraben worden war, ein makabres Opfer jenes Kleingeists, der so viele Verbrechen des Naziregimes erst möglich gemacht hat: Die Leiche wurde nachts auf Sulzbacher Gemarkung geschafft, um den Makel des Mordes von den Sodener Gemeindegrenzen zu nehmen. Die Sulzbacher legten die Leiche wieder zurück, und so wurde der Tote mehrmals hin- und hergeschafft, bis sogar ein Sodener Pfarrer von der Kanzel herunter seine Gemeindemitglieder hart angriff. Die Leiche des Jungen soll später von seinen Eltern abgeholt worden sein.
Dieses Schicksal wurde im Bewusstsein der Sodener bis zur Unkenntlichkeit erfolgreich verdrängt. Ausführungen eines Sodener Bürgers: „Vor dem Milchgeschäft, Klausstr. Ecke Brunnenstr., saß ein junger deutscher Soldat, der schrecklich weinte. Der konnte einfach nicht mehr, so ein junger Mensch. Die Leute liefen zusammen und fragten, was mit ihm los sei. Man informierte die SS, die „Goldfasane“. SS-Offiziere holten den jungen Soldaten ab. Es hieß dann: Im Hotel Adler tagt ein Standgericht. Dieses verurteilte den jungen Deserteur zum Tode. Er wurde an der Bismarckeiche standrechtlich erschossen und an Ort und Stelle verscharrt. Totengräber haben ihn dann einige Tage später ausgegraben und auf dem Friedhof beigesetzt. Nach dem Krieg ließ der Vater des jungen Soldaten ihn in den Heimatort überführen.“
Woher wissen wir all dieses? Die Sektion Schwalbach des Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) Main Taunus recherchierte die NS-Vergangenheit von Bad Soden und veröffentlichte 1984 die Broschüre „…als wenn nichts gewesen wäre“ (2.Teil).
Die weitere Aufarbeitung dieser Tragödie ist von den Schatten der Vergangenheit gekennzeichnet: Der damalige Revierförster errichtete einen einfachen Gedenkstein, einen unbehauenen Grenzstein, am Ort der Erschießung, etwa 120m entfernt von dem Hauptweg, der Grenzschneise zwischen Bad Soden und Sulzbach.
Allerdings wurden die Hinweistafeln dazu immer wieder Ziel von Verschmutzung und Vandalismus.
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