Stolpersteinverlegung 2021

Bad Soden, 4.September 2021

Urururenkel Benjamin-Paul (5) und Hector Luis (3)

Irgendwann, wenn sie ein paar Jahre älter sind, werden ihre Eltern ihnen berichten, was mit ihrer Urururoma im Jahre 1943 geschehen ist. Jetzt hocken Benjamin Paul (5) und Hector Luis (3) neugierig neben dem „Stolperstein“, der mit Rosen geschmückt ist und im Licht der Kerzen glänzt. Die ins Pflaster eingelassene Messingplatte soll an Mina (Wilhelmine) Kraft erinnern. An das grausame Schicksal, das der Neuenhainerin widerfahren ist.

Es war überwältigend, wie viele Menschen sich am Samstagnachmittag in der Schwalbacher Straße 2 in Neuenhain versammelt haben. Drei Generationen der weit verstreuten Angehörigen sowie Nachbarn, die sich an Mina Kraft erinnerten. Genau dort, wo heute eine Bushaltestelle ist, stand das Wohnhaus der Familie: Adam, Mina und von ihrem Sohn Gottfried Kraft. Und von ihrem Heim aus begab sich Mina auf ihren Weg in den Tod. Sie ahnte es wohl. Wilhelmine, ihre 17-jährige Enkelin, begleitete ihre 65 Jahre alte Großmutter nach Frankfurt, wo sich Mina zur sogenannten Aussiedlung im Haus der jüdischen Gemeinde am Hermesweg 5-7, inzwischen einem Gestapo-Zwangslager, melden sollte. Kaum vorstellbar, was im Inneren der Enkelin vorgegangen sein mag. Wenige Tage später, am 28. Oktober 1943, wurde Mina nach Auschwitz deportiert und dort im Konzentrationslager im Dezember 1943 ermordet.

Nicole und Rüdiger Brause von der Sodener Arbeitsgemeinschaft Stolpersteine haben das Leben der Mina Kraft recherchiert. Die AG wurde von der Neuenhainerin Anneliese Strörs-Becker aufmerksam gemacht, die Minas Schicksal nicht vergessen konnte. An der Feierstunde für die Verlegung des Stolpersteins konnte die bejahrte Patin des Gedenksteins aus gesundheitlichen Gründen leider nicht teilnehmen.

Haus beschmiert mit Hakenkreuzen

Mit Klezmer-Melodien stimmten Dorothea Paul auf ihrer Gitarre und Michaela Bender mit ihrer Klarinette auf die Gedenkstunde ein. Lissy Hammerbeck, Sprecherin der AG Stolpersteine, hob hervor, wie wichtig es sei, den NS-Opfern, die in den KZs zu Nummern reduziert wurden, ihre Namen zurückzugeben. Denn ganz im Sinne des Stolperstein-Projekt-Künstlers Gunter Demnig betont Hammerbeck, „ohne Namen wäre es so, als hätte es diese Menschen nie gegeben“.

Die Menschen, die sich noch leibhaftig an die Gräueltaten der Nationalsozialisten erinnern können, stellte Bürgermeister Frank Blasch fest, würden immer weniger. Deshalb sei es wichtig, nicht zu vergessen, mahnte er, „was Mina Kraft vor 78 Jahren geschehen ist“. Die Neuenhainerin Felicitas Kunz erinnerte am Rande des Treffens, dass ihre Schwiegermutter ihr viel über Mina Kraft erzählt habe. Und Jürgen Butzer holte ein altes Foto des Wohnhauses hervor, das die Krafts 1930 erworben hatten.

Als siebtes Kind des jüdischen Ehepaares Adolf und Emma Keller wurde Wilhelmine, gerufen Mina, 1878 in Neuenhain geboren. Sie heiratete 1901 in „Zivilehe“ den katholischen Anstreicher Adam Kraft. Sohn Gottfried wurde 1901 geboren und mit bischöflicher Sondererlaubnis 1903 katholisch getauft. Gottfried heiratete mit 25 Jahren nach Kronberg, bekam zwei Kinder, Karl Gottfried und Wilhelmine, und starb schon mit 35 Jahren. Wilhelmine wuchs in Neuenhain bei ihrer Großmutter Mina auf. Mina trat zum Christentum über, war in der katholischen Gemeinde aktiv und im „Vaterländischen Frauenverein vom Roten Kreuz“.

Doch als die Nazis an die Macht kamen, wurde das Leben für die Familie sehr schwierig. Mina wurde als „Judde-Mina“ beschimpft. Ihr Haus wurde von Hitlerjungen mit Hakenkreuzen und antisemitischen Sprüchen beschmiert. Der Malerbetrieb wurde boykottiert. Zitternd habe sie mit ihren Großeltern hinter den Fensterläden gestanden, erinnerte sich Enkelin Wilhelmine. Sie kannte alle, die dabei waren, nannte aus Angst aber keine Namen. Als die Schikanen der Lehrer und Mitschüler in der Neuenhainer Volksschule schlimmer wurden, zog die Enkelin 1941 zu ihrer Mutter nach Kronberg.

Mit einfühlsamen Worten schilderten Nicole und Rüdiger Brause den Lebens- und Leidensweg von Mina Kraft. Sehr schwierig sei es gewesen herauszufinden, wer und wo ihre Nachkommen lebten. Sowohl die Einwohnermeldekarte als auch die amtlichen Papiere zu ihrer Deportation seien nach Kriegsende plötzlich nicht mehr auffindbar gewesen. Wen wundert das? Geschah es doch auf Betreiben der ortsansässigen Nazis, dass Mina ans Messer geliefert wurde.

Aus Rottweil, Freudenberg am Main und von noch weiter her war ein großer Kreis der Nachkommen von Mina Kraft zur Verlegung des Stolpersteins angereist. „Jetzt holen wir diesen Mensch, der damals ausgeschlossen wurde“, betonte Rüdiger Brause, „wenigstens für einen kurzen Moment zurück, wo er hingehört – in unsere Mitte.“

Brigitte Kramer

Stolperstein Mina Kraft mit Blumen